Comics und Kino – Im
Schwindel der Beschleunigung
Die aktuelle Diskussion über den Zusammenhang von Kino
und Comics läuft auf dem allersimpelsten Niveau. Man spricht über
die Verfilmung von US-Superhelden-Serien. Man vergleicht (was man sich
im Fall von Literaturverfilmung längst abgewöhnt hat) Vorlage
und Adaption. Stimmen Atmosphäre und die Charaktere von Helden und
Schurken? Aber gerade Helden und Schurken wandeln ihre Charaktere im hektischen
Heft-Geschäft des amerikanischen Marktes schneller als je zuvor.
In Deutschland bespricht man außerdem die kommerziellen Möglichkeiten
aus den Filmstarts unter anderen Gesichtspunkten als in der Heimat Hollywoods.
Denn in den USA garantiert nahezu jede Comic-Verfilmung ein leidliches
Geschäft. Schließlich hat man dort den Aktionismus der Heroen
trotz heftig geschrumpfter Auflagen mit der Muttermilch eingesogen –
und sonst fällt den unter Ideen-Auszehrung leidenden Studio-Chefs
ohnehin kein Stoff für junge Kinogänger ein. In Deutschland
dagegen sind Figuren wie etwa Daredevil überhaupt nur esoterischen
Insider-Zirkeln bekannt, bevor sie auf der Leinwand erscheinen. Da überlegen
dann die Comic-Verleger, ob man sich an den Film womöglich mit verstärktem
Ausstoß von Publikationen hängen soll. Während die Filmverleiher
eher mögliche Verluste zwischen Werbeaufwand und Kassennachfrage
kalkulieren. Denn mancher aufgeblasene Medien-Hype lockt in Wirklichkeit
kaum jemanden von der Spielkonsole vor die Leinwand.
Da mag man gar nicht nachdenken über die komplexeren Verzahnungen
von Kino und Comic seit ihrem gemeinsamen Geburtsjahr 1895. Stürzen
wir nicht gleich in die Archäologie zurück, sondern schauen
auf eine auffällige Parallelführung der letzten Jahre. Beide
Medien haben sich beschleunigt – und in diesem Umstand liegt wahrscheinlich
der Grund für den Kino-Boom von Comic-Themen. Das Kino, so sagt die
Theorie, hätte Anstöße von den Videoclips aufgenommen,
bei denen es mehr um rhythmische Strukturen als um Inhalte geht. Die Videoclips
aber haben Vorbilder in den Hybriden zwischen Foto und Zeichnung, die
wir traditionell als Zeichentrick bezeichnen. Die ersten Musikclips waren
zweifellos Walt Disneys „Silly Symphonies “, die genau zu
dem Zeitpunkt über die Leinwände tanzten, als diese zu tönen
begannen. 1928 gab „The Jazzsinger“ erstmals im Kino Laut.
Und im selben Jahr trat Micky Maus als „Steamboat Willie“
auf. Disneys frühe Erfolge waren animierte Musikclips, auch wenn
sie ihre klingende Folie der populären Klassik entnahmen.
In den 90er Jahren reagierte das Kino dann auf die moderne Variante des
Clip, der sich – zunächst als Werbemittel für Popsongs
produziert – in den TV-Musikkanälen zu einem eigenen ästhetischen
Genre entwickelt hatte. Die Basis der neuen Ästhetik lag in der beschleunigten
Schnittfolge. Noch in den 80er Jahren waren im standardisierten Hollywoodfilm
ca. sechs Schnitte in der Minute üblich. Das Auge konnte die Übersicht
auf das Geschehen behalten. Inzwischen gibt es auf Actionhöhepunkten
30/40 Schnitte pro Minute. Handlung verwandelt sich für das Auge
in Rhythmus und Dynamik; oft kann es sich nur an bewusst gesetzten Farbeffekten
orientieren (deswegen ist der Wagen des Helden in Michael Bays „The
Rock“ in der Crash-Sequenz z. B. von knalligem Gelb). Das heißt:
In sehr schnellen Sequenzen wird das Kino quasi grafisch. Um fair zu sein,
muss man gestehen, dass das Kino im Montagefilm eines Sergej Eisenstein
oder Wsewolod Pudowkin während der 20er Jahre schon einmal fast so
schnell gewesen ist.
Tempo ist derzeit beinahe ein Qualitätskriterium für einen populären
Film. Dynamik ist Lebensgefühl, Unübersichtlichkeit kein Hindernis.
Denn es geht nicht um Begreifen und Kapieren, sondern um Fühlen und
Empfinden. Da mediale Entwicklungen längst nicht mehr isoliert ablaufen,
sondern im immer dichter gesponnenen Medien-Netz immer mehr Einfluss auf
andere Medien ausüben, muss die Beschleunigung im Kino (seit Techno
auch in der Popmusik) zwangsläufig Einfluss auf die Comics haben.
Und es wäre arg einfach, diesen Einfluss auf Superhelden-Filme mit
vielen Action-Szenen im Hochgeschwindigkeits-Takt zu reduzieren. Viel
mehr kann man den Boom der Mangas als Parallelbewegung zur Erhöhung
der Geschwindigkeit im Kino verstehen. Im Kino wird der Eindruck von Tempo
durch eine höhere Anzahl von Einstellungen in der selben Zeiteinheit
erzeugt. Auch im Comic wird die Anzahl der Einstellungen erhöht,
allerdings in der Raumeinheit. Die meisten Mangas zeigen mehr Panels auf
einer Seite als klassische amerikanische oder europäische Comics.
Wie im Kino werden damit nicht mehr Informationen vermittelt. Identische
Informationen werden aber von mehreren Seiten beleuchtet. Im Manga scheint
der Zeichner eine Szene mit der Kamera zu umkreisen und sie in viele Details
aufzulösen. Damit kann sogar ein statisches Geschehen temporeich
wirken, so wie im Kino dieselbe Szene von verschiedenen Kameras aufgenommen
werden kann, die dann im Actionhöhepunkt unterschiedliche Blickwinkel
auf dasselbe Ereignis eröffnen.
Die japanische Erzähltechnik ist in Amerika mit seinen vordergründigen
Action-Comics viel besser angekommen als in Europa, wo man immer noch
versucht, jenseits der Sinne den Verstand zu erreichen. Eine ganze Reihe
von Künstlern hat reagiert, allen voran Todd McFarlane mit seinem
„Spawn“ oder die Gestalter der „Chaos! Comics“,
die ein Erzählprinzip schon in ihren Namen eingebaut haben. In ihren
Veröffentlichungen beschleunigt nicht nur die Erhöhung der Panels
auf der Seite das Rezeptionsempfinden. Noch mehr trägt die Vervielfältigung
der Linien und eine Vorliebe für „Großaufnahmen“
(mit Linienvielfalt) innerhalb der Panels dazu bei. Auch im Kino sorgen
Großaufnahmen für Tempogefühl, weil eine unmittelbar vor
dem Objektiv ausgeführte Bewegung sich quasi in Speedlines auflöst,
schnell und abstrakt wirkt. Die Wimmelszenen im Armageddon-Zyklus von
„Chaos!“ oder in Dwayne Turners „Curse of the Spawn“
erzielen dieselbe Wirkung. Dazu kommen Figuren-Positionierungen und ihre
anatomischen Verkürzungen aus den Erfahrungen des Manierismus. So
entstehen Action-Comics, deren Handlungslogik sich zwischen den Linien
verliert – was dem Lektüre-Genuss aber nicht abträglich
zu sein scheint.
Schon diese hier angerissene Diskussion über die Wechselwirkungen
von Kino und Comic zeigt, wie spannend eine vergleichende Bildwissenschaft
sein könnte. Um Bilder geht es schließlich – hier wie
dort. Um Narrationen, die von einander lernen. Um Inhalte, die sich gegenseitig
inspirieren. So sind die Comics des Franzosen Baru gleichsam mit der Kamera
erzählt. Der Aufbau seiner Bildfelder lässt sich am besten in
der Terminologie der Filmanalyse beschreiben. Die italienische Fumetto-Serie
„Dylan Dog“ wäre ohne das Kino nicht nur seelen- sondern
auch gesichtslos. Alle Hauptdarsteller tragen die Physiognomien von Filmstars,
und die meisten Handlungsbögen setzen Filmdrehbücher fort. Andererseits
arbeiten viele Comic-Künstler als Storyboard-Zeichner in Hollywood.
Denn gerade in Zeiten hoher Virtualität auf dem Set, da Spielpartner
und Spielräume beim Drehen oft simuliert werden müssen und erst
in der Postproduktion durch den Computer hinzugefügt werden, sind
konkrete Bildvorstellungen für Regisseure und Akteure unverzichtbar.
Storyboards wie etwa das zu „Matrix “ könnten durchaus
als veritable Comic-Alben durchgehen.
Alles dreht sich, alles bewegt sich. Comics und Kino tanzen ihren Paartanz
derzeit inniger als je. Da ist es gut, wenn die Filmabteilung auf dem
Comic-Salon wieder größer wird. Da wäre es jämmerlich,
bloß Superhelden in Menschenmasken zu begaffen oder die neuesten
Anime als schon gesehen abzusortieren. Man muss in die Hintergründe
gucken – um zu verstehen, wodurch sich alles dreht und bewegt.
Herbert Heinzelmann
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